Die Bundesregierung hat am 20.01.2021 einen Vorschlag zur Aufnahme eines ausdrücklichen Kindergrundrechts in das Grundgesetz vorgelegt, dem aus rechtssystematischen Gründen nicht zugestimmt werden darf.
Ergänzt werden soll Art. 6 Abs. 2 GG, der dann wie folgt lauten würde (Änderungsvorschlag der Bundesregierung kursiv):
„1Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. 2Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. 3Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. 4Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. 5Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. 6Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“
Dieser Vorschlag soll hier nicht mehr hinsichtlich seines Wortlauts analysiert werden (siehe dazu hier und hier), sondern nur bezüglich des womöglich größten Fehlers, an dem er leidet: der systematischen Stellung des vorgeschlagenen expliziten Kindergrundrechts innerhalb des Grundgesetzes.
Denn wenn es einen Ort im Grundgesetz gibt, an den man das Kinderrecht keinesfalls schreiben darf, dann ist es derjenige des staatlichen Wächteramtes. Dies hätte sowohl für die Kinder als auch für die Eltern rechtliche und praktische Konsequenzen, welche von keiner Seite gewollt sind.
I. Der Regelungsstandort als potenzielle Gefahr für Kinder- und Elternrechte
Gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. In dieses besondere Abwehrrecht der Eltern darf der Staat nur nach Maßgabe des staatlichen Wächteramts eingreifen, welches in Art. 6 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG niedergelegt ist.
Irgendwann im Laufe des letzten Jahres wurde offenbar als Kompromiss zwischen den vermeintlichen Konfliktlinien Kinderrechtsbefürwortung und Elternrechtsschutz der vorherige Vorschlag des Bundesjustizministeriums in eine Richtung verschlimmbessert, die vorher nicht denkbar schien: die Bundesregierung schlägt nunmehr vor, das Kindergrundrecht mitten in das staatliche Wächteramt zu schreiben – genau zwischen Art. 6 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG. Man kann aus verfassungssystematischer Sicht nur davor warnen, diesen später nicht mehr korrigierbaren Fehler zu begehen.
Dieser Vorschlag kann zunächst den Eltern schaden, gegen die sich das Kindergrundrecht dann nämlich richten würde, weil das Kindergrundrecht auf diese Weise (nur) dem staatlichen Wächteramt zugeordnet würde und dadurch rechtssystematisch allein die Eingriffsbefugnis für den Staat in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG konkretisiert. Es kann aber auch den Kindern schaden, die Rechte gegenüber dem Staat außerhalb des Wächteramts verlieren könnten, die sie bereits heute haben – nämlich in Ausprägung des impliziten Kindergrundrechts unter Berücksichtigung der UN-Kinderrechtskonvention. In der jetzt vorgeschlagenen Form beginnt und endet der Absatz des Grundgesetzes zu den Kinderrechten zudem mit den Eltern. Diese umklammern die Kinderrechte förmlich und könnten sie rechtssystematisch ersticken.
II. Verfassungs- und völkerrechtliche Verankerung der Kinderrechte de lege lata
Hierbei muss beachtet werden, dass der Vorschlag ausweislich der Entwurfsbegründung zu Recht darauf begrenzt sein soll, die bisherige Verfassungsrechtslage sichtbar zu machen und keine Verschiebungen innerhalb der empfindlichen rechtlichen Dreieckskonstellation Kind-Eltern-Staat hervorzurufen. Daher muss man bei aller Beachtung der Elternrechte eben auch sicherstellen, dass man Kindern keine Rechte nimmt, die sie schon haben.
So müssen auch die Wertungen der Kinderrechtskonvention, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in die Auslegung der Grundrechte aufgenommen werden. Daher gilt z. B. die Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen, die Kinder betreffen, wohl durch eine völkerrechtskonforme Auslegung Grundgesetzes bereits jetzt. Das heißt: Immer, wenn der Staat in seinen Handlungen oder durch sein Unterlassen Kinder in ihren Interessen berührt, muss er nach Art. 3 Abs. 1 KRK diese Interessen besonders beachten – und eben nicht nur dann, wenn er auf Kinder im Zusammenhang mit deren Eltern trifft und in Rechte der Eltern eingreifen muss. Daher sollte auch das Kindergrundrecht systematisch „frei“ stehen, so wie auch Kinder als Rechtssubjekte frei sind.
Damit geht auch eine wichtige Schutzfunktion zugunsten der Kinder einher: Nicht nur in Schulen und im Jugendhilferecht, sondern stets, wenn staatliches Handeln oder Unterlassen auf Kinder trifft – z. B. bei der Verkehrsführung, Stadtplanung usw. – muss das verfassungsrechtliche Kindergrundrecht beachtet werden.
Das heißt beispielsweise auch, dass sich der durch die Grundrechte gebundene Staat (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht der Beachtung der Kinderrechte entziehen kann, wenn er Kinder direkt – ggf. auch ohne ihre Eltern zu betreffen – adressiert oder in ihren Rechten betrifft.
III. Problematisches Spannungsverhältnis zwischen geplantem Regelungsstandort und notwendigen Kinderrechten
Die nunmehr vorgeschlagene Stellung des Kindergrundrechts übersah dies entweder, oder man machte diesen systematischen Fehltritt eines Vorschlags der Aufnahme des Kindergrundrechts mitten ins Wächteramt sogar bewusst.
Da das Wächteramt dem Staat Eingriffe in das Elterngrundrecht gestattet und das Kindergrundrecht nach dem Kompromiss der Bundesregierung gerade dort geregelt werden soll, könnte es auch nur in diesem Rahmen Wirkung entfalten.
Eine solch verfehlte Positionierung – auch noch genau zwischen Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG – gibt überdies sowohl denen Argumente, die zu Recht deutlich machen, dass Kinderrechte auch außerhalb der elterlichen Umgebung gelten, als auch denjenigen, die im rechtspolitischen Diskurs davor warnen, dass ein Kindergrundrecht im Grundgesetz zu Konflikten mit dem Elterngrundrecht führen könnte. Die nun von der Bundesregierung vorgeschlagene Stellung des Kindergrundrechts direkt innerhalb des Wächteramts bringt erstmals die wirkliche Gefahr, dass Kinderrechte gegen Elternrechte in Stellung gebracht werden und beide Verfassungsrechte gegeneinander ausgespielt werden können. Denn dadurch würde das verfassungsrechtliche Kindergrundrecht als Konkretisierung des Wächteramts konstruiert, das Eingriffe in Elternrechte rechtfertigt. Der neue Satz 6 ändert daran nichts.
Wenn man im Grundrechtsbereich des Grundgesetzes etwas modifiziert, arbeitet man an der Herzkammer unserer Verfassung. Man darf deren Systematik nicht zerstören.
IV. De lege ferenda: Kodifizierung der Verfassungsrechtsprechung statt verfehlte Systematik
Das Bundesverfassungsgericht hat das bisher implizit im Grundgesetz enthaltene Kindergrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet, die insofern speziell für Kinder ausgelegt werden können.
Weder die Bund-Länder-AG noch das Bundesjustizministerium hatten auch nur ansatzweise vorgeschlagen, das Kindergrundrecht in das Wächteramt des Staates zu schreiben.
So wie es zuvor vom Bundesjustizministerium vorgeschlagen wurde, wäre ein neuer Absatz 1a in Art. 6 GG denkbar oder auch eine Ergänzung am Ende von Art. 6 Abs. 1 GG, sodass zunächst Ehe und Familie weiterhin an erster Stelle stünden, aber dennoch die Kinderrechte eigenständig und nicht umschlossen von den Elternrechten verkapselt im Wächteramt verortet würden.
Es geht dabei auch um Wertschätzung und die Anerkennung von Kindern als Menschen mit eigener Persönlichkeit. Sie sind selbst Rechtsträger sowie zunehmend eigenständig – und nicht Personen, die ihre Rechte nur und ausschließlich im Rahmen des staatlichen Wächteramts des Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG als Konkretisierung der Eingriffsbefugnis zu Lasten der Eltern innehaben.
Kurz: Das Kindergrundrecht darf keinesfalls direkt hinter Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG geschrieben werden.
Bevor man einen solchen rechtssystematischen Fehler begeht und das Kindergrundrecht dort hineinschreibt, wo es die Bundesregierung nunmehr vorgeschlagen hat, sollte man gegebenenfalls in Bundestag und Bundesrat neue Mehrheiten suchen. Dann sollte man den Kindern endlich diejenigen Rechte in den Verfassungstext schreiben, die sie bereits nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der UN-Kinderrechtskonvention haben.
Zitiervorschlag: Philipp B. Donath, Das Kindergrundrecht darf nicht ins staatliche Wächteramt platziert werden, JuWissBlog Nr. 28/2021 v. 16.03.2021, https://www.juwiss.de/28-2021/.
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